Hinterher drehte sich die spannende Diskussion um die entscheidende Szene des Spiels vor allem um eine Frage: Zentimeter oder Millimeter, Hacke oder Fußbreit. Das konnte in Echtzeit kein Mensch erkennen, nur der inzwischen weltberühmte VAR. Und der entschied in der zweiten Minute der Nachspielzeit: Abseits, hauchzart, haarfein, sehr viel enger, sehr viel knapper kann es im Grunde nicht zugehen. Und damit hatte sich dann der Trip in die Alte Försterei nach Ost-Berlin für Eintracht Frankfurt gelohnt, die Hessen ergatterten mit viel Glück gegen den 1. FC Union Berlin ein 1:1 (0:1) - weil der Treffer von Tim Skarke in der Extrazeit zum vermeintlichen 2:1 nach Intervention aus dem Kölner Keller nicht zählte. Da sind die Hessen mit einem blauen Auge davon gekommen.
„Lächerlich“, kommentierte später der Berliner Geschäftsführer Sport, Horst Heldt, diese Millimeterentscheidung, „wer sieht denn so was?“, fragte Horst Heldt rhetorisch. Und wusste natürlich die Antwort: eben der VAR. Christopher Trimmel, der so haarscharf vor der Flanke im Abseits stand, hatte da sehr viel souveräner geklungen: „Abseits ist Abseits, das muss man akzeptieren.“ Ein bisschen Abseits gibt es ja nicht.
„Das war sehr, sehr knapp“, fasste auch der sehr viel Ruhe und Gelassenheit ausstrahlende Torwart Kevin Trapp die letzte und aufregende Aktion zusammen. Er fand zudem: „Es wäre ein heftiger Nackenschlag gewesen, wenn das Tor gezählt hätte, wir haben so viel investiert.“ Es hätte dennoch leicht passieren können. Deshalb „sind wir froh, diesen Punkt hier mitzunehmen“, war der Kapitän natürlich zufrieden mit dem Ergebnis.
Der vermeintliche Siegtreffer, bei dem der just zuvor eingewechselte Aurele Amenda nicht gut ausgesehen hatte, war zu einem Zeitpunkt gefallen, da Eintracht Frankfurt schwer mit dem Rücken zur Wand gestanden hatte. Der Druck der Unioner war enorm, die nicklige, sehr körperbetonte Spielweise und die langen Bälle hinter die Kette behagten den Hessen ja ohnehin nicht, dazu mussten sie nach einem unberechtigten Platzverweis für Arthur Theate, der nach einem harten, aber nicht unfairen Zweikampf mit Skarke Gelb-Rot gesehen hatte, bald 15 Minuten in Unterzahl auskommen.
Am Abend teilte die Frankfurter Eintracht offiziell mit, gegen die Gelb-Rote Karte Einspruch beim DFB-Sportgericht einzulegen, da aus ihrer Sicht „ein Irrtum des Schiedsrichters vorliegt“, wie ein Sprecher der Hessen erklärte. Womöglich kann der bärenstarke Linksverteidiger, der nach seinem Feldverweis wütend gegen einen Stuhl am Spielfeldrand trat, am kommenden Samstag dann doch gegen den VfL Bochum eingesetzt werden. Aber ist das wahrscheinlich? Eher nicht.
Danach stemmten sich dann zehn Frankfurter gegen die drohende Niederlage, warfen alles in die Waagschale, was die müden Körper noch hergaben, Trainer Dino Toppmöller fand, man habe „großartig verteidigt“, er hob weiterhin die „geile Mentalität“ seiner Mannschaft hervor, die sich trotz der Belastung am Donnerstag in der Europa League nicht hatte unterkriegen lassen. „Aber man hat deutlich gesehen, welche Mannschaft in der Woche international unterwegs war und welche nicht.“ Gerade bei den beiden Himmelsstürmern Omar Marmoush und Hugo Ekitiké war der Substanzverlust unübersehbar. Selten versprühten die beiden Stürmer so wenig Torgefahr wie an diesem Sonntagabend in der Alten Försterei, Kevin Vogt und Diogo Leite nahmen ihnen konsequent die Luft zum Atmen. Und Marmoush blieb damit erstmals nach sechs Bundesligapartien ohne eigenes Tor und damit verpasste er es, den Rekord von Anthony Yeboah einzustellen, der einst in sieben Spielen hintereinander getroffen hatte.
Im Grunde hatte sich genau das Spiel entwickelt, das die Frankfurter erwartet hatten, ein sehr intensives, viele Zweikämpfe, praktisch über den ganzen Platz, dazu wurde bei Ballbesitz jeder Frankfurter sofort attackiert. „In den 90 Minuten hatten wir kaum Raum“, analysierte Trapp, deshalb seien im Mittelfeld zeitweilig viel zu oft Bälle verloren worden. „Da hätte es mehr Ruhe gebraucht“, sagte Toppmöller, der konstatieren musste, dass die Gäste gerade in der zweiten Halbzeit kaum mehr Druck aufs Berliner Tor entwickeln konnten. Einzig bei zwei Kopfbällen von Tuta nach Eckbällen hatten sich Möglichkeiten geboten. Im Kern versuchte die Eintracht in der zweiten Halbzeit nur noch, die Führung über die Zeit zu bringen.
Die Führung erzielte Mario Götze schon nach 14 Minuten nach einem Eckball, die Kugel flipperte ein bisschen durch den Strafraum, Theate versuchte sich, dann Ellyes Skhiri und irgendwie rollte der Ball genau vor die Füße des Jubilars, der nicht nur am Sonntag sein 300. Bundesligaspiel absolvierte, sondern auch keine Mühe hatte, einzuschieben (siehe auch Seite S2). In der ersten halben Stunde, erklärte der Coach später, habe sein Team „eine sehr gute Kontrolle über das Spiel gehabt“, eine Kontrolle, die mit Dauer der Partie immer weniger wurde.
Weil die Eintracht im zweiten Abschnitt kaum mehr für Entlastung sorgen konnte, war der Ausgleich nur eine Frage der Zeit, dennoch nannte ihn Toppmöller „dämlich“. Und er hatte da nicht ganz Unrecht: Denn die Hessen liefen in einen Konter, nach eigenem Freistoß und einem sinnfreien Flankenversuch des gerade eingewechselten Fares Chaibi nutzte erst Robert Skov den freien Raum und dann Benedict Hollerbach die Möglichkeit, Trapp zum 1:1 zu bezwingen. Auch dieses Tor wurde einer genauen Untersuchung durch den Kölner Keller unterzogen, auch da spielten Zentimeter eine große Rolle - allerdings mit dem besseren Ende für die Berliner, die durchaus diese umkämpfte Begegnung gewinnen hätten können. Kapitän Trimmel etwa traf bei einem fulminanten Schuss (50.) nur den am Pfosten.
„Schade“, sagte hinterher Horst Heldt, „wir haben ein richtig geiles Spiel gemacht.“ Und einmal nur ein ganz klein bisschen im verbotenem Feld gestanden.