Welchen Titel er denn wählen würde, wenn er dürfte, ist der Frankfurter Brasilianer Tuta am Mittwoch en passant gefragt worden. Meisterschaft? Pokalsieg? Europa-League-Champion? Puh, schwierige Frage, befand Tuta, der mit bürgerlichem Namen Lucas Silva Melo heißt. Der Pokal sei schon sehr speziell, die Meisterschaft sehr hart, also wählte er dann der Einfachheit halber die Europa League. Wie schon einmal, 2022, als sich die Eintracht mit Tuta in der Verteidigung in der magischen Nacht von Sevilla zum Champion krönte. „Wir können träumen“, sagt Tuta jetzt. Und er ist der festen Überzeugung, dass das Frankfurter Team auch in dieser Saison nach den Sternen greifen kann. „Wir wollen ins Finale“, sagt der 25-Jährige. Und er findet, dass dieses Fernziel in den Köpfen aller verankert sein sollte, denn: „Es bringt Energie.“
Nun sind erst vier Spieltage in der modifizierten Europa League absolviert, die Eintracht liegt aussichtsreich im Rennen, zehn Punkte, Rang vier. Doch bis Bilbao, dem Finalort, ist der Weg noch weit und steinig. Tuta formuliert seine Ansprüche aber nicht einfach aus einer Laune heraus, nein, er spüre vielmehr, dass mit der aktuellen Mannschaft etwas Großes möglich ist. „Ich habe das gleiche Gefühl wie damals in der Europa-League-Saison, wir haben dieses Jahr eine große Chance.“ Mit dieser Meinung stehe er nicht alleine da. „Wir alle fühlen diesen besonderen Geist“, sagt er.
Die Mannschaft ist eine verschworene Gemeinschaft, das spürt jeder, der sie auf dem Platz und abseits dessen beobachtet; der Umgang miteinander ist kumpelhaft, aber auch respektvoll. Keiner neidet. Für Tuta kommen zu diesen weichen Faktoren noch andere hinzu: „Wir haben viele junge Spieler, die hungrig sind, zuhören und lernen wollen.“ Da sei kein verzogener Bengel dabei, der sich für etwas Besseres halten oder nichts annehmen. „Jeder will sich verbessern.“ Tuta imponiert diese Einstellung. Und auch der Kampf um die Plätze pushe das Ensemble auf ein anderes Level. Keiner dürfe sich zu sicher fühlen, weil der Konkurrent im Nacken sitzt – und auch liefert. Nathaniel Brown oder Nnamdi Collins seien gute Beispiele. Beide musste lange warten – aber waren dann sofort voll da und nutzten ihre Chance.
Seine stärkste Saison
Und dann sind da noch zwei externe Zugänge, die ebenfalls zu einer signifikante Qualitätssteigerung beigetragen haben – durch ihre Leistungen, aber auch durch ihren Leadership, ihre Mentalität: Arthur Theate und Rasmus Kristensen. „Sie haben viel Energie und Erfahrung, sie geben uns sehr viel. Sie sind phantastisch für uns, es sind zwei wundervolle Typen.“ All das könne dazu führen, dass die Mannschaft in dieser Saison „große Momente“ erleben könne, in der Bundesliga „wollen wir oben dranbleiben.“
Er selbst stellt in dem gesamten Konstrukt einen nicht zu unterschätzenden Pfeiler dar, auch wenn das der bescheidene Mann aus São Paulo niemals sagen würde. Tuta spielt seine bisher stärkste und konstanteste Saison, seit er nun schon vor fünf Jahren nach Frankfurt gekommen ist. „Es ist die beste Zeit meiner Karriere“, pflichtet er bei. Die neue Abwehrformation helfe ihm dabei, auch die klaren Abläufe der Viererkette geben ihm Sicherheit. „Die Taktik kommt mir entgegen.“
Und er habe nun einen anderen Fokus, versucht bewusst, 90, 95 Minuten voll bei der Sache zu bleiben. Das war noch in der letzten Saison seine größte Problemzone, da streute er, wie in Darmstadt etwa, immer mal haarsträubende Bolzen in sein Spiel, die prompt bestraft wurden. „Wenn ich die Konzentration verliere, mache ich Fehler“, sagt er.
Der Sohnemann gibt Kraft
Tuta glaubt, dass seine persönlichen Lebensumstände zu seiner rundweg erfreulichen Gesamtsituation beitragen, denn er ist erst kürzlich erstmals Vater geworden, Frau Victoria brachte Anfang Oktober Sohnemann Sant zur Welt. „Das Leben hat sich verändert“, sagt er. „Der Kleine gibt mir sehr viel, viel Kraft und Energie. Das ist auch Teil meiner Entwicklung.“ Nur vor den Spielen muss Frau Victoria das gemeinsame Glück alleine schultern. „Ich muss dann gut schlafen.“
Seine Leistungen in Deutschland sind auch in der Heimat nicht unbemerkt geblieben, Tuta hofft auf eine Einladung zur brasilianischen Nationalmannschaft. In der Defensive gebe es in der Seleção zwar einen harten Konkurrenzkampf, „aber ich fühle, dass diese Möglichkeit sehr nahe ist. Ich muss einfach bereit sein.“
Tuta hat in seiner Frankfurter Zeit einiges erlebt, er kam als junger Bursche und gehört mittlerweile zu den Dienstältesten im Team, er wurde verliehen nach Belgien und dann behutsam aufgebaut als Nachfolger von Kapitän David Abraham. Seitdem war Tuta eigentlich immer Stammspieler. Es war eine Zeit, die ihn geprägt hat, „fünf tolle Jahre“, wie er sagt. „Als ich hier mein erstes Interview gab, sagte ich, ich möchte Teil der Geschichte dieses Klubs sein“, befindet er und fügt stolz an: „Das habe ich geschafft.“
Sein Vertrag läuft noch eineinhalb Jahre, ob er ihn verlängern wird oder eine neue Herausforderung anstrebt, weiß er noch nicht, und er will sich gerade zurzeit, da es fast schon perfekt läuft, „auch nicht so viele Gedanken über dieses Thema machen.“ Eines sei ganz klar: „Ich bin der Eintracht sehr dankbar, und ich spüre eine tiefe Liebe für diesen Verein.“ Aber: „Ich habe auch noch Träume.“ Nicht nur den vom Europa-League-Triumph.