Barockstadt inside

„Meine Eltern habe ich nie wieder gesehen“

20. April 2022, 06:06 Uhr

In unserer Serie „Barockstadt inside“ blicken wir hinter die Kulissen des Hessenligisten und überlassen es den Beteiligten, ihre Gedanken loszuwerden. Heute erzählt Jemal Kassa seine Geschichte. Foto: Charlie Rolff

Flucht von Eritrea nach Deutschland. Ein Tor gegen den FC Bayern. Rassismus-Vorfälle am Sportplatz. Barockstadts Jemal Kassa hat mit 24 Jahren viel erlebt.

Wir waren mit der Junioren-Nationalmannschaft von Eritrea bei einem Turnier in Norwegen. Auf der Rückreise haben wir einen Zwischenstopp in Frankfurt gemacht, sollten in einem Hotel übernachten. Es war ganz spontan, wir haben unsere Chance gesehen. Wir wollten einfach nur weg.

Wir, das sind Munir Tekleyes, Solomon Haile Negussie, Natnael Weldetnsae, Abel Mehari und ich. Munir und Solomon spielen heute bei Künzell, Natnael in Bachrain, Abel für Bruchmühlbach in Rheinland-Pfalz. In Eritrea konnten wir uns keine Zukunft vorstellen. Weder im Fußball noch in der Schule hätten wir etwas erreichen können. Es war das Jahr 2010, ich war 13 Jahre alt. Meine ganze Familie lebt noch in Eritrea, alle meine vier Geschwister. Ich war nie wieder dort. Meine Eltern habe ich seither nicht gesehen.

Flucht aus Eritrea: Jemal Kassa kommt in Maberzell unter

Wir sind damals aus dem Hotel abgehauen. Sind in der Nacht durch Wälder gelaufen, haben uns auf dem Boden ein paar Stunden schlafen gelegt. Zum Glück haben wir einen Mann getroffen, der uns geholfen hat. Er stammt aus Ghana und war unglaublich wichtig für uns. Das Jugendamt hat später dafür gesorgt, dass wir im Maberzeller Kinderdorf untergekommen sind. In Frankfurt war kein Platz für uns alle fünf.

Es war ganz wichtig für uns, dass wir zusammenbleiben konnten. Wir sind wie Brüder, haben noch heute eine Whats-App-Gruppe und regelmäßigen Kontakt. Die ersten ein, zwei Jahre waren nicht ganz einfach für uns. Neues Umfeld, neue Sprache. Andere Kultur, anderes Essen. Ich habe den Unterschied zwischen Sommer und Winter kennengelernt.

Treffer gegen Bayern München, Julian Nagelsmann und Gregor Kobel

Zum Glück hatten wir den Fußball. Zuerst haben wir in Haimbach mittrainiert, dann sind wir alle bei der SG Bronnzell untergekommen. Wir konnten dort in der Hessenliga spielen. Später habe ich beim JFV Viktoria Fulda eine gute Saison gespielt, so dass ein Berater auf mich zugekommen ist. Er hat mir verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, am Ende bin ich zum 1. FC Kaiserslautern gewechselt. Dort war Abel bereits hingegangen, im Internat konnten wir uns ein Zimmer teilen. Es war eine geile Zeit: Gegen Bayern München habe ich in der Junioren-Bundesliga mit einem Distanzschuss das 2:2 erzielt. Auch gegen Hoffenheim unter dem heutigen Bayern-Trainer Julian Nagelsmann habe ich getroffen, im Tor stand der jetzige Dortmund-Torwart Gregor Kobel.

In Kaiserslautern habe ich meine Ausbildung zum Industriemechaniker gemacht, bei verschiedenen Vereinen vier Jahre lang auf Oberliga-Niveau gespielt. Einmal gab es einen Vorfall, der bis vor Gericht gegangen ist. Ein Zuschauer hat Affenlaute gemacht, wenn ich am Ball war, hat dafür zehn Jahre Stadionverbot bekommen. Man macht sich darüber viele Gedanken, bekommt aber zum Glück viel Zuspruch.

Einen ähnlichen Vorfall gab es bei unserem Spiel in Waldgirmes, als der gegnerische Spieler Glodi Bebe rassistisch beleidigt wurde. Ich stand daneben, habe alles mitbekommen. Solche Vorfälle machen mich traurig. Aber ich bin froh, dass das Spiel fortgesetzt wurde. Auf diese Weise haben wir diesen Idioten nicht größer gemacht als das Spiel selbst.