Vom Ende der Einsamkeit

Meisterhaft! Torgranate-Redakteur jubelt in der BayArena über die Deutsche Meisterschaft von Bayer 04 Leverkusen. © privat

Unser Redakteur Johannes Götze ist 38 Jahre alt, geboren in Hünfeld und lebhaft im beschaulichen Mackenzell. Dort fristete er seit 30 Jahren als Leverkusen-Fan ein einsames, titelloses Dasein. Seit gestern ist das Geschichte.

Warum bist du Leverkusen-Fan? Es gibt keine Frage, die mir neben den typischen Höflichkeitsfloskeln in meinem Leben öfter gestellt worden ist. Und die Frage ist berechtigt. Denn bis ich selbst überhaupt mal einen anderen Bayer-Fan kennenlernen durfte, war ich bereits volljährig, hatte vier Vizemeisterschaften, zwei Fast-Abstiege und drei verlorene Endspiele miterlebt. In meinem Umfeld waren und sind die Menschen Eintracht-Fans. Wäre ich vielleicht auch geworden, wenn denn mein großes Idol Rudi Völler 1994 zur Eintracht gewechselt wäre. Ist Rudi aber nicht, sondern hat sein erstes Tor für Bayer gegen die Frankfurter geschossen. Im gleichen Spiel erzielte Bernd Schuster die schönste Bude seines Lebens. Fast von der Mittellinie. Tor des Jahrzehnts. Ich war infiziert. Acht Jahre alt und endlich Fan einer Mannschaft. Nur hatte ich keinen blassen Schimmer, dass ich mich ganz schön allein fühlen muss. Hätte mir nicht jemand sagen können, dass dieser Verein angeblich keine Tradition und keine echten Fans hat? Und die nächsten 30 Jahre nichts gewinnen wird? Aber das abgedroschene Sprichwort stimmt: Den Partner wechselt man öfter als seinen Verein.

Bayer Leverkusen: Ein Redakteur beschreibt seine Gefühlswelt

Meine Tante kaufte mir kurz später als Geschenk zur Erstkommunion mein erstes Trikot und erzählte, dass noch nie jemand ein Leverkusen-Trikot beim heimischen Sportartikelhändler bestellt hätte. Es war nicht mal das aktuelle, sondern eines aus der Vorsaison. Legendär mit Chamäleon auf der Brust. Kostet bei eBay mittlerweile 250 Euro. Ein rares Gut. Der heimische Sportwarenhändler war offensichtlich nicht der einzige, der noch nie mit Leverkusen in Berührung gekommen war. Eine graue Maus hätte diesem Trikot mehr Wahrhaftigkeit als dieses bunte Chamäleon verliehen.

Schon früh in meiner Fankarriere wurde meine Leidensfähigkeit auf die Probe gestellt. Der Fast- Abstieg 1996. Die Tränen von Rudi und Andi Brehme. Ich habe das Spiel live gesehen. Im Fernsehen. Auf Premiere. Nur war es verschlüsselt. Der Kommentator gut hörbar, aber das Bild eben in schwarz-weißen Schleier gehüllt. Beinahe hätte ich all meine Poster und Schals von der Wand gerissen, aber dann hat Markus Münch für den lange Zeit emotionalsten Fan-Moment gesorgt und den Abstieg verhindert.

Kein Vizekusen mehr: Johannes Götzes Herzensverein Bayer Leverkusen ist endlich Deutscher Meister. © privat

Und dann? Kam Christoph Daum! Was habe ich diesen Trainer verehrt. Was hat er für tollen Fußball spielen lassen. 9:1 in Ulm. 5:2 gegen die Bayern. Unvergessen. Aber es kam, wie es kommen musste. Meine Mutter musste noch schnell zur Post, bevor sie mich in die Dorfkneipe fuhr. Im Auto lief „Why does my Heart feel so Bad“ von Moby. Eine Stunde später traf Michael Ballack ins eigene Tor. Unterhaching wurde Realität. Ich war todtraurig. Meine Kumpels trösteten mich und feierten den Last-Minute-Klassenerhalt der Eintracht. Es war surreal. 2000 war das.

Zwei Jahre später war ich in Slowenien. Zehnte Klasse. Abschlussfahrt. Meine erste Frage nach Ankunft in schlechtem Englisch: Wo kann ich am Mittwoch das Champions-League-Finale gegen Real Madrid schauen. Zidanes Zaubertor. Ich war 16 und trank nachher die Hotelbar leer. Irgendjemand trug mich ins Zimmer. Dreimal Vize in zehn Tagen. Schlimmer wird es nicht mehr kommen. Neverkusen nannten das die Engländer. Und irgendwie stimmte es. Genau wie Erik Meijers geflügeltes Wort: „Es ist nichts scheißer als Platz zwei“, sagte der ehemalige Bayer-Stürmer einmal.

Selbst wenn Leverkusen den schönsten Fußball spielte, zum großen Wurf sollte es nicht langen. Auch später nicht. Nicht im Pokal, nicht in der Meisterschaft. Und ehrlicherweise war Leverkusen auch nur noch einmal nahe an einem Titelgewinn, doch dann kam Mesut Özil und schoss das 1:0 für Bremen im Pokalfinale 2009. Ich saß im Olympiastadion und so richtig traurig konnte ich ja gar nicht sein. Ich war längst an Leid, Drama und Enttäuschung gewöhnt. Irgendwann stumpft selbst Traurigkeit ab. Die Jahre danach vergingen wie im Flug. Immer wieder wurde von starken Kadern gesprochen. Sogar Michael Ballack versuchte es noch mal in der Farbenstadt. Aber selbst der „Capitano“ konnte die berechtigten Vorurteile nicht aus der Welt schaffen: Eine Wohlfühloase sei das in Leverkusen. Keine Reibung. Nicht genug Mentalität. Kein Siegergen.

Doch dann kam Xabi. Und diese surreale Saison. Schon im vergangenen Juli scherzten mein bester Freund und ich, dass es dieses Jahr zum großen Wurf langt. Warum wir darüber sprachen, zehn Euro auf den Meister Leverkusen zu setzen, sogar die Quote raussuchten, es aber nicht taten? Es hätte sich jedenfalls rentiert! 400 Euro Gewinn für 10 Euro Einsatz. Ich habe noch mal im WhatsApp-Verlauf nachgeschaut. Und mich nicht mal geärgert. Mein Job als rasender Reporter auf den Amateursportplätzen lässt es nicht zu, dass ich jede Woche bei Bayer 04 im Stadion sein kann. Doch diese Saison klappte es oft. In München, Heidenheim und Darmstadt war ich. Gegen Freiburg, Stuttgart oder WestHam in der BayArena. Und gestern hatte ich das große Glück, gegen Werder Bremen im Stadion sein zu dürfen. Es war tränenreich. Once in a Lifetime!

Manchmal dachte ich während der Fahrten an Brad Pitt. An seine Hauptrolle im Film „Moneyball“. Seine Oakland Raiders brachen Rekord um Rekord und wurden doch kein Baseball-Meister. Und an Moby. Seinen Song. Und an Campino, der Ende der 90er diesen abschätzigen Bayern- Song mit seinen Hosen trällerte, um nach dem Unterhaching-Spiel doch ganz artig mit großem Banner medienwirksam dem Deutschen Meister aus München zu gratulieren. Nun wurde mir gratuliert. Von Dutzenden Menschen bekam ich Anrufe und WhatsApps. Warum mir? Die meisten der Gratulanten kennen nur einen Leverkusen-Fan.